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Erfahrungsbericht: Diplomarbeit in China im Jahre 2002

von Dirk Mussenbrock im Februar 2002

„Ni hao ma?“ schallte es mir entgegen, als ich aus dem Ankunftsbereich des Flughafens Shenyang kam. Unter den zahlreichen Chinesen war Ronald, der deutsche Praktikant, leicht zu erkennen. Begleitet wurde er vom Chauffeur sowie dem Übersetzer der Shenyang Xike Silicia Ltd.. „Mamahuhu“ warf ich ihnen zu und das bereits angesetzte Lächeln breitete sich auf den Gesichtern meines Empfangskomitees weiter aus – mein Volkshochschul-Chinesisch zeigte Wirkung. War ich froh! – heil und pünktlich angekommen in China – genauer gesagt in Shenyang, der Hauptstadt der nordchinesischen Provinz Liaoning.

Doch beginnen wir am Anfang dieses Abenteuers: „1,3 Milliarden Zahnbürsten – China lockt!“ mit diesen Worten hat Mahatir Mohammed – Premierminister Malaysias – die wirtschaftlichen Chancen Chinas auf den Punkt gebracht.  Nach den beeindruckenden Erfahrungen von 6 Monaten Praktikum nahe Los Angeles war mir schnell klar, dass auch die Diplomarbeit mit einem Auslandsaufenthalt verbunden werden musste. Diesmal sollte es aber in eine andere Gegend sein: Asien.

500 e-mails wurden an Personalabteilungen in ganz Deutschland versendet, um sich für eine Diplomarbeit mit Themenbereich Marketing und einen entsprechendem Auslandsaufenthalt in Asien zu bewerben. „Zu kleines Büro“, „Keine Betreuungsmöglichkeiten vor Ort“, oder „Diplomarbeiten in Asien bieten wir nicht an“ lautete die oft stereotype Antwort. Doch dieser recht mühselige und langwierige Prozess zeigte bei einigen wenigen Firmen Erfolg: Der Geschäftsbereich Semiconductor der Heraeus Quarzglas mit Sitz in Hanau und Kleinostheim hatte ein passendes Thema im Bereich Marketing und war bereit, mich für 2 Monate in seine Niederlassung in der Volksrepublik China zu senden. Whow – ich war begeistert!

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Die Heraeus Quarzglas GmbH & Co. KG (HQS) gehört zum Technologiekonzern Heraeus, der mit ca. 9000 Beschäftigen weltweit im Bereich der Edelmetalle, Dentalwerkstoffe, Quarzglas, Sensoren und Speziallampen agiert. HQS stellt Quarzglas-Basismaterial her und fertigt daraus Produkte für verschiedenste Bereiche, wie z.B. Lampentechnik, Mikrochipproduktion und chemische Anwendungen. In Shenyang unterhält der Geschäftsbereich Semiconductor einen Standort mit ca. 200 Mitarbeitern. Die Shenyang Xike Silicia Ltd. (SSI) fertigt dort Bauteile aus Quarzglas, die für die Mikrochipproduktion benötigt werden. Die hochtechnische Produktion entspricht deutschem Niveau, der Standort beliefert hauptsächlich Mikrochipfabriken in China. Außer gelegentlichen deutschen Praktikanten der FH-Aalen sind dort ausschließlich Chinesen beschäftigt.

Nachdem sich die erste Freunde gelegt hatte, stellte sich die Frage: Was weiß ich denn überhaupt über China und Shenyang!? Google kannte Abhilfe und innerhalb eines Tages war ich viel schlauer. China hatte 2001 ein reales Wirtschaftswachstum von 7,3% und mit 12,1 Mrd. US$ Export nach China stellt es für deutsche Unternehmen den zweitwichtigsten Exportmarkt in Asien da – nach Japan. Die Steigerungsraten hierfür lagen in den vergangenen Jahren bei ca. 30%.

Die wichtigsten Wirtschaftsregionen sind die Shanghai Area und die Gebiete um Hong Kong. Davon ist Shenyang allerdings weit entfernt – nämlich ca. 1800 km. Shenyang ist mit 6 bis 8 Millionen Einwohnern (keiner kennt die genaue Zahl) das wichtigste Industrie-, Handels- sowie Kulturzentrum im Nordosten Chinas. Der große Boom ist noch nicht dort angekommen, aber immer mehr westliche Unternehmen siedeln sich dort an. Vor kurzem hat BMW entschieden, in Shenyang ein Werk zu erstellen, um dort den 3er für den chinesischen Markt zu fertigen. Wie sich später herausstellte, hatte es aber auch seine Vorteile, dass der Boom in dieser Region noch nicht so ausgeprägt zu spüren war. Die Menschen hier sind nicht so hochnäsig, wie die selbst von den Chinesen misstrauisch beäugten Shanghainesen.

Während der 4 Wochen Vorbereitungszeit bei HQS in Kleinostheim wurde ich schon vorgewarnt: In Shenyang ist es kalt, dreckig und der Smog ist im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend. Nun gut, auch das wirst Du überstehen dachte ich mir. Flug und Visum wurden problemlos und schnell arrangiert, Unterkunft sollte ich bei den anderen 8 deutschen Praktikanten der FH-Aalen finden, die sich dort schon seit 2 Monaten aufhielten. Am 18. November 2002 ging es dann los. Abflug in Hamburg, weiter nach Wien, von dort direkt nach Beijing (Peking), mit Air China weiter nach Shenyang.

In Shenyang dann erste Eindrücke außerhalb des Flughafens – und tatsächlich: die Straßen sind gefüllt von zahlreichen Fahrrädern, Rikschas und fliegenden Händlern. Als zweites fallen einem die zahlreichen roten Taxis ins Auge: VW Santana und VW Jetta – so weit von Deutschland entfernt, aber doch ein Stück Heimat auf den Straßen Shenyangs.

Als erstes machte mir dann sogleich der Fahrstil unseres Chauffeurs etwas Angst: Dauert das Rot an der Ampel zu lange, wird dieses kurzerhand ignoriert, die Gegenfahrbahn wird gern zum Überholen genutzt – egal was gerade von vorn kommt. Und Fahrradfahrer werden ebenso gnadenlos geschnitten wie alle anderen vermeintlich schwächeren Verkehrsteilnehmer. Auch Hupe und Lichthupe sind im Dauereinsatz und werden durchaus auch mal eingesetzt, wenn der voraus fahrende Polizeiwagen etwas langsam ist.Meine Unterbringung übertraf dann allerdings meine kühnsten Erwartungen.

Die 2 Wohnungen, in denen 4 der deutschen Studenten wohnten, entsprachen eher unterem chinesischen Standart. Kein warmes Wasser, keine Dusche und 3 Stunden Heizung am Tag – und das bei erwarteten -25 Grad. Dies führte dazu, dass ich bei extremen Außentemperaturen und Zimmertemperaturen von ca. 5 bis 10 Grad meinen Haarfön dazu nutzte, um den Raum um einige Grad aufzuwärmen.

Der Aufenthalt im Unternehmen war von einer großen Freundlichkeit, Neugierde und Offenheit mir gegenüber geprägt. Die Tatsache, dass ich als Deutscher nicht versucht habe, den Chinesen zu zeigen „wie es richtig gemacht wird“, keine arroganten Allüren an den Tag legte und mich auch sonst sehr bemüht habe, mich in das tägliche Leben einzufügen verfehlte seine Wirkung nicht. Auch die tägliche An- und Abfahrt mit dem Firmenbus ebenso wie der tägliche Besuch der Kantine und die Mithilfe beim kollektiven Schneeschippen der Büroangestellten empfand ich als selbstverständlich.

Ansonsten ist das tägliche Leben in den WFOE´s (Unternehmen in komplett ausländischem Besitz) nicht allzu anders als bei uns. Man arbeitet zwischen 38 und 40 Stunden, nutzt die üblichen Microsoft-Office Anwendungen und surft das ein oder andere Mal auch im Internet. Dennoch gibt es viele Aspekte, die man kennen muss, um die Art der Chinesen zu verstehen. Im Gegensatz zu uns sachlich orientierten Westeuropäern ist man mehr auf die Personen und das Zwischenmenschliche fixiert, als z.B. auf nackte Kennziffern. Der Chinese mag keine direkte Kommunikation, Probleme werden meist indirekt angesprochen und gelöst. Entscheidungen werden meist Kollektiv getroffen, personalisierte Entscheidungen, wie sie bei westlichen Managern oft geschätzt werden, sind bei Chinesen unbeliebt.  Daraus resultierend dauern Entscheidungen meist länger und werden oft anders begründet.

Die Kommunikation war dank einiger Englisch sprechender Kollegen nahezu problemlos. Auch 3 deutschsprachige Chinesen waren im Unternehmen tätig. Die nähere Beschäftigung mit Unternehmensdaten und –unterlagen birgt allerdings Schwierigkeiten. Sollte man tatsächlich der chinesischen Sprache mächtig sein, bereiten einem die 3500 verschiedenen Schriftzeichen ein weiteres Problem. Die Folge war, dass alle benötigten Unterlagen übersetzt werden mussten. Bei einem knappen Terminplan hat mich dies die ein oder andere Falte auf meiner Stirn gekostet.

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Neben den täglichen Recherchen im Büro gab es natürlich auch viele andere Dinge zu entdecken. Shenyang kann auf eine lange Geschichte zurückblicken. So war die Kaiserresidenz in Shenyang angesiedelt, bis sie nach Beijing (Peking) umgesiedelt wurde. Ebenso wie in Beijing ist die verbotene Stadt auch in Shenyang noch sehr gut erhalten und verlangt nach einem Besuch. In Benxi lädt eine weltberühmte Warmwassergrotte zum Besuch ein, weiter im Norden liegt die Stadt Harbin mit seinem bekannten Eisskulpturen-Fest.

Aber nicht nur die typischen touristischen Sehenswürdigkeiten bieten interessante Erlebnisse. Die Fahrt mit dem Taxi oder Stadtbus, der Besuch in einem der zahlreichen Einkaufszentren und Geschäfte, der Bummel über die zahlreichen Märkte oder das abendliche Essen mit chinesischen Studenten zeigen viel mehr von der interessanten Kultur und ihren sehr liebenswerten Menschen, als das Bild, was einem typischen Touristen geboten wird.

China stellt für deutsche Studenten sicher noch ein eher ungewohntes Ziel dar. Sei es nun für Praktika oder Diplomarbeiten. Dennoch ist – insbesondere mit Blick auf die enger werdenden Wirtschaftsbeziehungen – klar, dass Erfahrungen in dieser Region im späteren Berufsleben goldwert sein können. Natürlich stehen einem solchen Aufenthalt diverse Entbehrungen entgegen. Zart besaitete Studenten und Studentinnen, die auf die tägliche morgendliche Dusche im wohltemperierten Bad und Ihr Essbesteck nicht verzichten können oder beim Anblick einer Kakerlake das Weite suchen, sollten sich lieber für ein anderes Land entscheiden.

Wer allerdings Lust verspürt, eine besondere Herausforderung anzunehmen und für uns sehr fremde Kulturen zu erkunden, der findet in China sicher ein ideales Ziel. Auch, wenn das Erlernen der chinesischen Sprache mit seinen vielen Dialekten und den über 3000 Schriftzeichen ein eher langwieriges Unterfangen ist, gibt es Möglichkeiten, sich in diesem Land zu bewegen. Die Unterstützung durch ein dort agierendes deutsches Unternehmen macht vieles möglich!